Die Tränen Allahs (NZZ vom 24.10.2010)
Keine Frau in Shimas Familie konnte jemals lesen. Nicht ihre Urgrossmutter, nicht ihre Grossmutter, nicht ihre Mutter. Und auch keine ihrer Urgrosstanten, Grosstanten und Tanten und natürlich auch keine ihrer Schwestern. Dass Frauen lesen können, das war in Ali Beg, zwei Dutzend Lehmhäuser, kein fliessend Wasser, Strom nur vom Generator, vom Rest der Welt durch Berge getrennt, die auch im Sommer schneebedeckt bleiben, so unvorstellbar, wie dass sie bestimmen, wen sie heiraten werden.
Es war so gegen die Tradition, es war schon fast gegen die Natur. «Frauen, die lesen», pflegte einer der Dorfältesten zu sagen, «das ist wie Esel, die sprechen.» Es war daher kein unbedeutendes Ereignis in der Familiengeschichte, als Shima im Alter von acht Jahren verkündete, dass sie nun in die Schule gehen wolle.
Ali Beg liegt mitten in Afghanistan. Weit weg von allen wichtigen Strassen und Städten. Als im Winter 2001 die Amerikaner kamen, versuchten die Taliban gar nicht erst, das Tal zu verteidigen. Über Nacht waren alle weg. Am Tag danach rasierten sich die Männer die Bärte ab und entstaubten die Radios. Und die Frauen, die unter den Taliban die Peitsche fürchten mussten, wenn sie auf der Strasse auch nur einen lackierten Fingernagel sehen liessen, sie badeten ihre nackten Füsse im Fluss, bis ihre Zehen im eiskalten Wasser blau anliefen.
Dann wurde im Dorf die erste Schule für Mädchen eröffnet. Zur Einweihung kam auch eine Delegation von Politikern. Ein Politiker sprach von der Zukunft. Doch auch die Vergangenheit war präsent. Die Männer des Dorfes, die bei der Eröffnung der ersten Mädchenschule in Ali Beg unbedingt dabei sein wollten, konnte man an zwei Händen abzählen.
Messer und Salzsäure
Im Süden und Osten von Afghanistan, dort, wo der Einfluss der Taliban in den letzten Jahren wieder zugenommen hat, wird jede Woche eine Schule für Mädchen angezündet und werden Schülerinnen mit Messern und Salzsäure attackiert. Und Lehrer erhalten Drohbriefe. Das amerikanische Nachrichtenmagazin «Time» veröffentlichte kürzlich Auszüge.
In einem Brief stand: «Wir empfehlen Ihnen, Ihren Beruf als Lehrerin so schnell wie möglich aufzugeben. Andernfalls werden wir Sie auf so schmerzhafte Weise töten, wie noch niemand getötet wurde, und Ihren Schülerinnen werden wir die Köpfe abschneiden. Allah wird darüber keine Tränen vergiessen.»
Nach einer Statistik der Organisation Human Rights Watch wurden im letzten Jahr in Afghanistan erstmals seit acht Jahren mehr Mädchenschulen geschlossen als neue eröffnet. Nicht nur weil die Schulen der Zerstörung anheimfielen, sondern auch, wenig erstaunlich, wegen Lehrermangels.
Die Schule in Ali Beg wurde zwar nicht angezündet. Es gab auch keine Drohungen gegen die Lehrerin. Aber die Schule stand weitgehend leer. Sosehr die Männer von Ali Beg froh darüber waren, dem Tugendterror der Taliban entkommen zu sein, so sehr waren die meisten von ihnen der Meinung, dass ihre Töchter in einer Schule nichts verloren hatten.
Die erste Mädchenklasse von Ali Beg bestand aus fünf Mädchen. Nach ein paar Monaten waren es noch drei. Zwei Mädchen, beide 12, waren verheiratet worden. Mit 12 verheiratet zu werden, ist auch in Afghanistan verboten, 16 ist das offizielle Mindestalter. Es ist aber keine Seltenheit, dass noch weit Jüngere in die Ehe gegeben werden. Eine halbe Tagesreise von Ali Beg entfernt wurde diesen Sommer ein 8-jähriges Mädchen zur Frau eines blinden 55-jährigen Mullahs.
In den Stall zu den Schafen
Shimas Bildungsoffensive startete ähnlich verheissungsvoll. Als sie das erste Mal von der Schule sprach, tat ihr Vater, als höre er Radio. Das zweite Mal schaute er sie böse an. Und das dritte Mal stand er auf, packte sie an den Haaren und schleppte sie wortlos in den Stall zu den Schafen, wo sie drei Tage bleiben musste. Es war Winter. Unter null. Shima wäre erfroren, hätte ihr die Mutter nicht heimlich eine Decke und warmes Essen gebracht.
Zwei Jahre vergingen. Shima lief am Schulhaus vorbei und dachte, wie grossartig es wäre, hineingehen zu dürfen. Warum sie lesen lernen wollte, konnte sie nicht genau sagen. In Ali Beg besass ausser der Lehrerin und dem Mullah niemand Bücher. Die einzige Schrift, die die Bewohner von Ali Beg regelmässig zu sehen bekamen, waren die Untertitel der amerikanischen und indischen Filme, die, nachdem die Generatoren angesprungen waren, abends in allen Häusern über die Bildschirme flimmerten.
Aber die Untertitel genügten, Shima eine Ahnung davon zu geben, dass das Lesen ihr Zugang zu einer Welt verschaffen würde, die weit grösser und interessanter war als alles, was sie jemals in Ali Beg zu erleben erwarten durfte. Sie liebte die Buchstaben am unteren Rand des Bildschirms, lange bevor sie irgendetwas davon verstehen konnte.
Einmal blies der Wind eine Zeitung die Strasse hinunter. Zu Hause glättete Shima mit einem grossen Stein die Seiten und versteckte die Zeitung unter ihrer Matratze. War sie alleine, nahm sie die Zeitung hervor und fuhr mit dem Finger langsam den Zeilen entlang. Doch eines Tages hängte die Mutter die Matratze an die Sonne, und die Zeitung kam zum Vorschein. Als der Vater die Zeitung sah, warf er sie sofort in den Ofen. Und weil er gerade dabei war, warf er auch Shimas Malstifte der Zeitung hinterher. Dann nahm er sich Shima selber vor. Er schlug seine Tochter, bis sie zu Boden fiel, und dann traktierte er sie mit den Füssen.
Diesmal verbrachte Shima eine ganze Woche im Stall. Es war Sommer, die Temperatur war kein Problem. Doch Shima hatte Zahnschmerzen, zwei ihrer Zähne wackelten, und wenn sie einatmete, verspürte sie jedes Mal ein Stechen in der Brust. Die Mutter weinte, wenn sie ihr das Essen brachte. Einen Tag nachdem der Vater sie wieder aus dem Stall gelassen hatte, lief Shima auf und davon.
Ein Ziel oder einen Plan hatte sie nicht. Sie wusste nur, dass sie möglichst weit weglaufen wollte. Sie schlief auf einem Baum, nachdem sie in der Dämmerung das Heulen von Wölfen gehört hatte. Sie trank aus einem Fluss und grub auf einem Acker Kartoffeln aus. Sie ass die Kartoffeln, obwohl sie noch grün waren. Nach drei Tagen kam sie an eine Strasse. Das erste Auto war die Polizei.
Automatisch Prostituierte
Nach der Einschätzung einer Mitarbeiterin der amerikanischen Hilfsorganisation Women for Afghan Women laufen in Afghanistan jedes Jahr eher Tausende als Hunderte von Mädchen von zu Hause weg, die einen, weil sie geschlagen werden, die andern, weil sie vor einer drohenden Verheiratung flüchten. Die meisten verbessern ihr Los dadurch hingegen nicht. Eine Frau, die von zu Hause wegrennt, gilt in weiten Teilen Afghanistans automatisch als Prostituierte.
Als der Polizist sich, nachdem er Shima auf den Posten gefahren hatte, an seiner Gürtelschnalle zu schaffen machte, war das insofern kein gutes Zeichen. Alles, was der Polizist hingegen tat, war, mit seinem Gürtel auf den Tisch zu schlagen. Doch Shima sagte ihm auch dann nicht, woher sie kam. Der Polizist probierte es mit Brüllen und einer stockdunklen Zelle. Kein Erfolg. Eines Problems, das er nicht lösen konnte, offenbar überdrüssig, lud er Shima mitten in der Nacht eine Stunde weiter an der Strasse wieder ab.
Iranischer Bienenhonig
Am anderen Morgen fand ein iranischer Lastwagenfahrer das Mädchen schlafend am Strassenrand. Er hielt an, weil er sie fast überfahren hätte. Das Mädchen stieg sofort ein und ass ein ganzes Glas iranischen Bienenhonig. An einer Strassensperre gab der Lastwagenfahrer Shima als seine Tochter aus. In Kabul, 200 Kilometer weiter, übergab er sie einem Schutzhaus für Frauen. Dort stand Shima das erste Mal im Leben unter einer Dusche und lernte schneller als jedes Mädchen vor ihr lesen und schreiben.
Shimas Vater erkrankte kurz nach ihrer Flucht. Die Nieren. Geld für Medikamente war keines da. Ein Jahr, und der Vater lag auf dem Friedhof. Ein Onkel sorgte dafür, dass Shima zurück nach Ali Beg kommen konnte. Sie geht nun jeden Tag in die Schule. Ausserdem besucht sie mit der Lehrerin die Familien der Mädchen, die gegen das Lesen und Schreiben sind.
Das Argument, das die Väter fast immer zu überzeugen vermag: Mädchen, die lesen können, können Geld für die Familie verdienen. Die Schule in Ali Beg hat mittlerweile nicht mehr 3 Schülerinnen, sondern über 50. Neulich beim Abendessen sagte Shimas Mutter zu ihr: «Das hast du gut gemacht.» Shima möchte einmal Ärztin oder Lehrerin werden.
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