Recht auf Rettung aus dem Tagesanzeiger, Von Mario Stäuble. Aktualisiert am 05.03.2012
Menga V. war drogensüchtig, leidet an Depressionen und hat zwei Suizidversuche hinter sich. Nun die Diagnose: Krebs. Sie braucht eine neue Leber, aber Spenderorgane sind knapp. Soll sie eine erhalten?
Sie fühle sich sehr gut, sagt sie. Aber zu behaupten, dass man ihr nichts mehr ansehe, wäre gelogen. Ihre Hände zittern, die Hälfte des Kaffeerahms landet auf dem Tischtuch. Ein Nebeneffekt der Medikamente. Sie spricht leise, mit langen Pausen zwischen den Sätzen. Als Treffpunkt hat sie das vornehme Café Felix am Zürcher Bellevue ausgewählt, «weil man hier gut reden kann».
Die Geschichte, die Menga V. (45) inmitten von Kunstblumenschmuck und frühstückenden Rentnern erzählt, beginnt in Zürich-West, in einem der Bernoullihäuser. Dort hat Robert Oppliger seine Praxis. Der «Landarzt in der Stadt» (Oppliger über Oppliger) nimmt sein Handy auch spätabends ab, weil es sein könnte, dass ein Patient Hilfe braucht. Oppliger hat sich auf eine Klientel spezialisiert, die keinen 9-to-5-Tag kennt: auf Randständige und Drogensüchtige. Menga V. ist eine von ihnen.
Sie sagt: «Bei mir gehts schnell ins Extreme.» Mit Sechzehn haut sie von zu Hause ab, Ängste verfolgen sie, der Vater ist seit vier Jahren tot. Drei Jahre verbringt sie in der Psychosekte VPM, dann folgen Platzspitz und Letten, Heroin, Kokain und Tabletten. «Ich bin sehr scheu. Ich kann schlecht auf Leute zugehen. Das Heroin machte mich frei, zumindest glaubte ich das.»
Nach einer Reihe von gescheiterten Entzügen kommt sie Ende der 90er-Jahre ins Methadonprogramm. Sie lebt in einer 1-Zimmer-Wohnung im Kreis 8, arbeitet in geschützten Werkstätten. 2008 lernt sie Robert Oppliger kennen, der bald ihr Arzt, Therapeut und Vertrauensperson in einem ist. Jeweils freitags schaut sie für Tests und Methadon-rationen bei ihm vorbei.
Am Freitag, 4. September 2010, stimmt etwas nicht. Menga V.s Urinprobe ist dunkel, fast schwarz. Gallensteine, vermutet Oppliger und schickt sie ins Waidspital zur Abklärung. Der Krebs, den die Ärzte in ihrer Leber aufspüren, hat einen Namen, den Menga V. nicht mehr vergisst. Klatskin-Tumor, nach dem amerikanischen Mediziner Gerald Klatskin. Das Geschwulst verstopft die beiden Gänge, welche Gallenflüssigkeit aus der Leber ableiten. Deshalb der dunkle Urin. Die Ärzte sagen: «Wenn nichts geschieht, sterben Sie.» Tumor, Gallengänge und Leber müssen weg. Eine Transplantation ist der einzige Ausweg.
Robert Oppliger ist skeptisch. «Ich habe Frau V. nicht offen dazu ermuntert. Es gibt im Leben einen Punkt, wo man eingestehen muss: Okay, es war schön, aber nun ist es zu Ende.» Menga V. zweifelt ebenfalls. «Ich bin ein Ex-Junkie. Ich bin im Methadonprogramm, bekomme IV, habe Depressionen. Zweimal habe ich versucht, mich umzubringen. Warum sollte ausgerechnet ich eine Leber bekommen?»
Die Professoren Philipp Dutkowski und Beat Müllhaupt haben eine kurze und eine lange Antwort auf diese Frage. Sie sitzen in einem Konferenzraum mit orangebraunem Linoleumboden, irgendwo im Innern des Universitätsspitals. Die beiden sind der Kern des Teams, das in Zürich unter der Leitung von Direktor Pierre-Alain Clavien Lebertransplantationen durchführt. Dutkowski ist Chirurg, Müllhaupt Spezialist für Leber- und MagenDarm-Krankheiten.
Die kurze Antwort gibt Beat Müllhaupt in fünf Sekunden: «Niemand, der ein Organ braucht, darf diskriminiert werden. So sagt es das Gesetz.» Die lange Antwort dauert dann eine knappe Stunde, in der die beiden Professoren die Theorie des Gesetzes auf den Fall Menga V. prallen lassen. Ein Dutzend Fachärzte diskutiert im September 2010 am Universitätsspital darüber, was mit Menga V.s Leber zu tun sei. Tumorboard heisst das Gremium, das sich jeden Donnerstagvormittag trifft, um die Behandlung von Krebspatienten zu besprechen. Zuerst steht die Frage im Raum, ob es möglich sei, einen Teil der Leber zu entfernen, wie bei den meisten Patienten mit Klatskin-Tumor. Aber der Krebs liegt ungünstig – genau dort, wo die beiden Gallengänge zusammenkommen. Würde ein Chirurg versuchen, ihn herauszuschneiden, würden Gallengänge und Blutgefässe zu stark beschädigt.
Also eine Transplantation. Damit sich das Tumorboard dafür entscheidet, muss Menga V. mit einer neuen Leber auf fünf Jahre hinaus eine Überlebenschance von mehr als 50 Prozent haben. Früher habe man Patienten mit Klatskin-Tumor nicht transplantiert, sagt Philipp Dutkowski. Zu schlecht waren die Resultate. Aber heute gibt es ein neues Behandlungsdrehbuch, genannt Mayo-Protokoll: vier bis sechs Wochen Bestrahlung, drei Monate Chemotherapie, um den Tumor schrumpfen zu lassen, und erst dann die Transplantation. Überlebenschance: 80 Prozent.
Um zu prüfen, ob sie für das Protokoll infrage kommt, durchläuft Menga V. in den folgenden Wochen eine aufwendige Testserie, bestehend aus Blut-, Urin- und Gewebeproben, Röntgen von Herz und Lunge, Ultraschall, Computer- und Kernspintomografie, Ruhe-EKG, Belastungs-EKG sowie aus Haut-, zahnärztlicher und psychiatrischer Untersuchung.
Zur gleichen Zeit läuft im Team von Philipp Dutkowski und Beat Müllhaupt eine zweite Diskussion. Es geht um die Frage, ob die Transplantation aus medizinisch-ethischer Sicht richtig sei. Dutkowski sagt: «Das ist der schwierigste Teil unserer Arbeit, denn es gibt keine allgemeingültige Antwort. Man muss bei jedem Patienten die Umstände sorgfältig abwägen.»
Ein erster Anhaltspunkt ist Menga V.s Alter. Mit 45 ist sie noch verhältnismässig jung. Dann die Biografie. Hier gibt es Fragezeichen – die Depressionen, die Drogen, die Suizidversuche. Dutkowski sagt: «Mit einer Transplantation ist das Problem nicht behoben. Manchmal stösst der Körper das neue Organ ab. Manchmal muss man nochmals operieren. Und der Patient ist sein Leben lang auf Medikamente angewiesen.» Das Team fragt sich: Wie geht es Menga V. psychisch? Wie wird es ihr nach der Transplantation gehen? Wird sie zuverlässig an die Nachkontrollen kommen? Wird sie ihre Medikamente nehmen?
Der Psychiater stellt Menga V. eine gute Prognose aus. Sie sei stabil und nicht mehr suizidgefährdet. Drogen nimmt sie seit Jahren keine mehr. Das nächste Puzzleteil ist Robert Oppliger. «Frau V. hat eine enge Beziehung zu ihrem Hausarzt und hält ihre Termine ein. Das ist für uns entscheidend», sagt Beat Müllhaupt. Es gebe aber noch einen Test: «Die Vorbereitung einer Transplantation ist aussergewöhnlich anstrengend und schmerzhaft. Der Patient muss extrem motiviert sein und Lebenswille zeigen, um alles durchzustehen. Frau V. schaffte das.» Am 28. Oktober 2010 sind sich alle Ärzte einig. Menga V. wird ins Mayo-Protokoll aufgenommen.
Sie kennt niemanden, der bereit wäre, ihr einen Teil der eigenen Leber zu spenden. Die Schwester, die infrage kommt, sagt ab. Menga V. schreibt ihr ein SMS: «Ich bin dir nicht böse.» Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass jemand stirbt. Dieser Jemand muss in einem Spital einen Hirntod oder einen Herzstillstand erleiden. Und er – oder seine Familie – muss das Einverständnis für das Transplantieren seiner Organe gegeben haben. Diese Bedingungen sind selten erfüllt, im Jahr 2011 schweizweit bei 102 Personen, denen rund 400 Organe entnommen wurden. Weil aber gleichzeitig über 1000 Patienten auf eine Transplantation hoffen, gibt es Wartelisten, die immer länger werden. Menga V. erhält einen Platz auf der Liste für eine Spenderleber, einen Tag vor Weihnachten 2010.
Die Zuteilung eines Organs funktioniert in erster Linie nach Dringlichkeit. Wer es auf die Warteliste geschafft hat, bekommt Punkte. Je schlechter die Leberwerte, desto höher die Punktzahl. Die Organ-Drehscheibe Swisstransplant weist eine Leber dem Patienten zu, der die meisten Punkte gesammelt hat.
Menga V. hat keine schlechten Leberwerte, denn der Tumor stört das Organ nicht bei der Arbeit. Trotzdem rückt sie im Frühling 2011 auf der Liste langsam nach oben, weil sie alle paar Wochen Tumor-Zusatzpunkte erhält. Die Liste ist geheim – Philipp Dutkowski weiss nicht, an welcher Stelle seine Patientin steht, aber er behält ihr Punktekonto im Auge. Denn kurz bevor sie eine Leber zugeteilt erhält, gibt es ein letztes Hindernis. Dutkowski muss sicher sein, dass der Tumor keine Ableger gebildet hat. Um das zu überprüfen, gibt es nur einen Weg – «den Bauch öffnen und hineinsehen».
Die Operation ist gefährlich, Menga V. ist von der Bestrahlung und der Chemotherapie geschwächt. Aber sie übersteht auch diesen Eingriff. Am 12. Juli 2011 stellt Dutkowski fest: Keine Tumore ausserhalb der Leber. Dann geht es schnell. Menga V. erholt sich bei ihrer Schwester, als bei Dutkowski das Telefon klingelt. Es ist Swisstransplant, und der Chirurg erfährt, dass eine passende Leber verfügbar sei. Sie war für einen Patienten in Genf bestimmt, aber der dortige Spezialist hat abgelehnt. Mit dem Organ scheint es ein Problem zu geben.
Dutkowski bittet darum, die Leber sehen zu dürfen. Er stellt fest, dass deren Hauptarterie zum Teil verkalkt ist. Es könnte sein, dass sie sich nach der Operation verschliesst und das Organ unbrauchbar macht. Dutkowski entscheidet, das Risiko einzugehen – «diese Leber war vielleicht Frau V.s einzige Chance.»
Am Morgen des 20. Juli 2011 holt eine Ambulanz Menga V. ab. Ihre Schwester ist bei ihr. Mit Blaulicht rast der Krankenwagen ins Universitätsspital. Bevor die Betäubung einsetzt, überlegt sie, ob sie der Schwester noch irgendwelche letzte Worte sagen soll. Sie schweigt. Als sie aufwacht, spürt sie starke Schmerzen im Brustkorb. Ihr fällt ein, dass sie vergessen hat, den Ärzten von ihren zwei gebrochenen Rippen zu erzählen. Wie dumm von ihr! Erst dann realisiert sie, dass in ihr ein fremdes Organ steckt. Und es funktioniert. Die Operation ist gelungen. Nichts ist verstopft. Am 7. August, elf Monate nach der ersten Diagnose von Hausarzt Robert Oppliger, kann Menga V. das Spital verlassen.
Oppliger sagt heute, er sei weiterhin skeptisch gegenüber Organspenden. Zumindest in der Theorie. «Aber wir bewegen uns hier in einem Grenzbereich. Das Beste, was wir tun können, ist wohl, jedem Menschen – auch solchen vom Rand der Gesellschaft – eine Chance zu geben. Es freut mich, dass das bei Frau V. geklappt hat.»
Und die Patientin? Die sitzt im Café Felix und zeichnet mit dem rechten Zeigefinger ihre Narbe nach, eine wellenförmige Bewegung quer über den Bauch. Zehn Medikamente muss sie schlucken, und eigentlich müsste sie sich täglich Sonnencreme einstreichen, wegen der Hautkrebsgefahr. Sie wischt das Thema Nebenwirkungen beiseite. Wichtiger ist ihr, dass sie sich wieder mit ihrer Schwester versteht, nach 20 Jahren Schweigen. Dass sie wieder Lebensfreude in sich spürt. Sie sagt: «Erst, als man mir gesagt hat, dass ich Krebs habe, ist mir klargeworden, dass ich leben will. Und ein Mensch, der leben will, sollte leben dürfen.»
Wissen vertiefen
Einleitung
Pro (Etwa 3 Argumente)
Was spricht dafür, dass ....
Mögliche Wortwahl: Einerseits/ zudem/ man sollte auch beachten/ dazu kommt
Contra (Etwa 3 Argumente)
Was spricht dagegen...
Mögliche Wortwahl: Andererseits
Fazit
Wie lautet deine persönliche Meinung?
Mögliche Wortwahl: Obwohl.... dennoch....Ich denke/ Meiner Meinung nach..Ich bin der Auffassung..
Du kannst statt eines Pro / Contra Aufsatzes auch eine lineare Erörterung schreiben. Das heisst, dass du von Anfang an eine Meinung hast; statt Pro und Contra Argumente nur entweder Pro oder Contra Argumente aufführst.
Wie muss sich dann der Titel ändern?
Alles klar? Sonst bitte nachfragen.