Geisterstadt im Ozean (Spiegel.de)
Einst einer der dichtestbesiedelten Flecken der Welt, nun eine Phantominsel: Auf dem japanischen Mini-Eiland Hashima riskierten Arbeiter ihr Leben in Kohleschächten unter dem Meer.
1974 wurde die Musterstadt fluchtartig verlassen - heute sind ihre Ruinen ein Paradies für Fotografen. Japaner nennen Hashima nur ehrfurchtsvoll die "Schlachtschiff-Insel". Und dieses winzige Eiland wirkt tatsächlich wie ein uraltes Kriegsschiff, das durch die unruhigen Gewässer des Ostchinesischen Meers zu treiben scheint. Ein trutziger, grauer Koloss aus Stahl und Beton, fast ohne Vegetation. Eine Insel, komplett umgeben von mächtigen Mauern - Schutzwälle gegen die meterhohen Wellen, die Taifune in diesen Gewässern immer wieder auftürmen.
Der martialische Name passt, nicht nur wegen der Schiffsform der Insel: Jahrzehntelang kämpften hier Menschen gegen die Naturgewalten, gegen den Platzmangel auf dem nur 160 mal 480 Meter kleinem Eiland, gegen die Angst in den engen Kohleschächten unter dem Meeresspiegel. Die Insel sollte ein Symbol der Moderne und der Industrialisierung werden - die immensen Kohlemengen lockten über Jahrzehnte Tausende Arbeiter an und machten Hashima einst zu dem am dichtestbesiedelten Ort der Welt.
Heute liegt das Schlachtschiff einsam da - 1974 haben die letzten Bewohner die Insel fluchtartig verlassen, nur ein paar streunende Katzen sind zurückgeblieben. Aus dem Symbol des Fortschritts wurde ein Symbol der Vergänglichkeit: In manchen Wohnungen sind die Tische noch gedeckt, man findet verstaubte Flaschen, verrostete Kühlschränke, alte Schulbänke oder die Ruinen eines Swimmingpools. Das einst lärmende, hochindustrialisierte Hashima ist eine stille Geisterinsel geworden - ihre einmalige Architektur aber ist stummer Zeuge einer nahezu vergessenen Epoche japanischer Industriegeschichte.
Eine japanische Musterstadt
Der Schlüssel für die einzigartige Entwicklung eines unbewohnten Mini-Eilands zur Boom-Stadt war die hochwertige Kohle, die in dieser Region zu finden war. Schon im 19. Jahrhundert wurde auf Hashimas größerer Nachbarinsel Takashima Kohle gefördert, die man als Brennstoff für die Salzgewinnung benötigte. Mit Hilfe von schottischen Ingenieuren entstand hier 1869 Japans erste moderne Kohlemine. Sie förderte den immer wertvoller werdenden Rohstoff gar aus 45 Metern Tiefe.
Dieser Erfolg und der explodierende Kohlebedarf weckten schnell Begehrlichkeiten: 1890 kaufte die japanische Firma Mitsubishi die Insel Hashima für 100.000 Yen. Sie errichtete einen hochmodernen, fast 200 Meter langen Förderschacht. Und nicht nur das: Das heute weltberühmte Unternehmen, damals in der Schifffahrtsindustrie tätig, wollte ausgerechnet auf der lebensfeindlichen Insel eine Musterstadt errichten - es wurde ein Miniaturabbild der japanischen Gesellschaft.
Als Schutz vor der stürmischen See ließ das Unternehmen die ganze Insel mit Betonwällen befestigen. Immer mehr Arbeiter wurden angesiedelt, die jährliche Kohleproduktion schnellte in die Höhe - 1916 betrug sie 150.000, 1941 schon 400.000 Tonnen. Sinnbildlich für die gesellschaftliche Hierarchie bewohnte der Manager der Mine das einzige Privathaus auf der Spitze der Insel, während die einfachen Kohlekumpels in winzigen Zehn-Quadratmeter-Wohnzellen mit Gemeinschaftstoiletten untergebracht wurden. Noch heute prägen die grauen Betonfassaden das Gesicht der Insel - damals galten die mehrstöckigen Wohnanlagen als Zukunftsarchitektur: Auf Hashima wurde 1916 Japans höchstes Stahlbetongebäude errichtet - es hatte neun Etagen.
Mörderische Arbeit unter dem Meeresspiegel
Nicht alle kamen freiwillig hierher. "Als ich Hashima sah, verlor ich jede Hoffnung", erinnert sich Suh Jung-Woo in einem Interview. Schlagartig wurde dem Koreaner bewusst, dass er von hier nicht fliehen konnte. Er war einer von Hunderten Zwangsarbeitern aus China und Korea, die während des Zweiten Weltkriegs die Kohleproduktion ankurbeln sollten. "Es war eine entsetzliche, aufreibende Arbeit. Gase bildeten sich in den Tunneln, die Decken und Mauern aus Stein drohten jede Minute einzubrechen. Ich war überzeugt, dass ich diese Insel niemals lebendig verlassen würde".
Hashima im Ostchinesischen Meer: von der Gefängnis- zur Luxusinsel zur Geisterstadt
In der Tat erlagen etliche Zwangsarbeiter den unmenschlichen Arbeitsbedingungen, der Erschöpfung oder verunglückten bei Unfällen. "Vier bis fünf Arbeiter starben jeden Monat", berichtet Jung-Woo. Und es traf nicht nur die Zwangsarbeiter. Brian Burke-Gaffney, Buchautor und Professor an der Universität Nagasaki, hat einen Bericht über Hashima verfasst. Er schätzt, dass bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1300 Arbeiter auf der Insel gestorben seien. Manche der Zwangsarbeiter hätten gar verzweifelt versucht, von der Insel zum Festland zu schwimmen.
Doutoku Sakamoto hingegen vermisst diese Insel. Er wuchs hier zu einer anderen Zeit auf: Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Hashima seine Blütezeit, Arbeiter wurden mit Vergünstigungen und guter Bezahlung gelockt, der Lebensstandard war höher als anderswo in Japan. "Für uns war das wunderbar", erzählte Sakamoto in einem Fernsehinterview. "Wir hatten Anfang der sechziger Jahre alle schon einen Kühlschrank, einen Fernseher und eine Waschmaschine."
Bordell und Buddha-Tempel
Bis auf einen Friedhof gab es alles: Grundschule, Spielplatz, Kino, Krankenhaus, Friseur, Bars, Restaurants - ja sogar ein Buddha-Tempel und ein Bordell. Wasser, das in den ersten Jahrzehnten mühsam mit Schiffen importiert werden musste, wurde ab 1957 durch eine kilometerlange Leitung vom Festland geschickt. Die Bewohner begannen, die völlig zugebaute Insel mit Pflanzen und Gemüseanbau auf ihren Dächern lebenswerter zu machen.
Platz für Privatsphäre blieb kaum. Wie in einem winzigen Freiluftlabor kämpften die Japaner auf Hashima schon vor Jahrzehnten gegen genau die Probleme, die das heutige Japan plagen: Platzmangel einer hochentwickelten Gesellschaft. Jeder Ort auf der Insel konnte innerhalb von Minuten erreicht werden, alle Gebäude waren durch ein Labyrinth schmaler Korridore und Treppen miteinander verbunden. Der Kindergarten und das Schwimmbad mussten aus Platzmangel auf das Dach der Wohnanlagen verlegt werden - nur Meter neben den Schaukeln fand einmal in der Woche ein Markt statt.
Zu Hochzeiten wohnten 5259 Menschen auf der Insel - die größte jemals gemessene Bevölkerungsdichte. Pro Hektar waren das unglaubliche 835 Menschen, fast sechsmal so viel wie im heutigen Tokio. Doutoku Sakamoto hat das wenig gestört - im Gegenteil: "Es war eine echte Gemeinschaft, jeder war für jeden da, jeder hat seinen Nachbarn geholfen", erzählt er in einem Interview dem ZDF und schickt nachdenklich hinterher: "Im heutigen Japan wird das alles längst vergessen."
Ein Mahnmal erwacht zum Leben
Nicht zuletzt deshalb gibt er derzeit Auslandskorrespondenten aus aller Welt Interviews. Mit der Medienoffensive kämpft er gegen das Vergessen, möchte Hashima auf die Liste des Unesco-Weltkulturerbes hieven - nicht nur wegen der Architektur, sondern auch als Mahnmal gegen den einseitigen Raubbau an der Natur: Denn der einstige Reichtum der Insel wurde ihr zum Verhängnis: Die Kohleförderung wurde zu teuer, die Nachfrage sank, Japans moderne Industrie setzte plötzlich auf Erdöl. Nach mehr als 16 Millionen Tonnen geförderter Kohle kündigte Mitsubishi im Januar 1974 die Schließung des Werkes an.
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