Italiens Alcatraz (Spiegel.de)
Gorgona in der Toskana ist Europas letztes Gefängnis auf einer einsamen Insel mitten im Meer. Für viele Häftlinge ist das Eiland trotz seiner Abgeschiedenheit ein Sehnsuchtsort, für Touristen ein eher ungewöhnliches Ausflugsziel.
Kaum ist die "Sapore di Sale" in Sichtweite des winzigen Hafens von Gorgona, kommt ihr mit hohem Tempo ein Polizeiboot auf Patrouille entgegen. Die Beamten nehmen Funkkontakt zum Käpt'n auf, Sichtkontrolle, okay: Das weiße Schiffchen mit dem romantischen Namen "Geschmack des Salzes" ist angemeldet und darf anlanden auf der einsamen Insel.
Auf den ersten Blick sieht es hier aus wie an vielen anderen Urlaubsorten auch: Von der Mole springen Kinder jauchzend ins kristallklare Wasser, gegenüber nehmen ein paar Menschen ein Sonnenbad. Doch dann sammeln Uniformierte der Gefängnispolizei die Ausweise der Besucher ein, die mit dem Schiff für einen Tag hergekommen sind. Auch Handys und Fotoapparate werden eingefordert. Dann erst darf die 16-köpfige Gruppe sich auf den Weg ins Landesinnere machen.
Gorgona ist die nördlichste und kleinste Insel des Toskanischen Archipels. Sie ist 2,15 Kilometer lang, 1,65 Kilometer breit und bis zu 254 Meter hoch. Seit 1869 ist sie eine Gefängnisinsel - die letzte ihrer Art in Europa - und sie darf auch von neugierigen Touristen besucht werden. Mehrere Veranstalter bieten den eher ungewöhnlichen Ausflug für einen Tag an.
Der Weg vom Hafen zur Haftanstalt führt auf einer schmalen, gepflasterten Straße steil bergauf, vorbei an den Häusern früherer Inselbewohner. Die leben alle längst auf dem Festland und kehren nur in den Ferien für ein paar Tage oder Wochen auf die Insel zurück. Nur Luisa Citti wohnt noch hier. Die 86-Jährige wird umsorgt und umhegt vom Gefängnispersonal und den Insassen: Kein Radioempfang? Wasserschaden? Wir kommen und reparieren!
34 Kilometer von der Küste entfernt
Vorbei geht es an den Fundamenten einer alten römischen Villa, mit Bodenmosaiken und Resten von Wandbemalung. Vorbei am kleinen Friedhof, wo auf fast allen Gräbern die Familiennamen Citti oder Dodoli eingraviert sind. Nur drei Gräber tragen gar keinen Namen. Dort liegen im Gefängnis Verstorbene ohne Angehörige, sagt Giacomo, der Touristenführer.
Während die Gruppe Kakteen, Palmen und eine bunte Vielfalt duftender Blüten passiert, erklärt der Biologe ab und zu Details aus der mediterranen Pflanzenwelt dieses unter strengem Naturschutz stehenden Reservats. Dabei weiß er natürlich, dass die um ihn versammelte Gruppe die Botanik weitaus weniger interessiert als das Leben in diesem Gefängnis, das auch ohne Mauern kaum jemand aus eigener Kraft verlassen kann.
34 Kilometer ist Gorgona von der Küste entfernt - so weit schwimmt keiner. Auch mit dem Schiff ist der Hafen nur bei glatter See erreichbar. Oft kommen die Gefängniswärter deshalb auch nach Ablauf ihrer Wochenschicht nicht heim, aufs Festland, während dort ihre Ablösung festsitzt. Nur der Zulagen wegen machen die meisten der derzeit rund 50 Beamten hier Dienst und finden diesen durchweg öde.
Die knapp 70 Gefängnisinsassen dagegen haben sich lange dafür bewerben müssen, gerade hier ihre Strafe verbüßen zu dürfen. Auch hier sind die Häftlinge oft hinter Zäunen und nachts hinter Gittern, aber dabei sind sie meist "draußen" und bei der Arbeit. Auf dem Bauernhof kümmern sie sich um Kühe, Ziegen, Schafe, Pferde und Schweine oder werden in Bäckerei, Metzgerei und Käserei eingesetzt, im Olivenhain oder Weinberg der Insel.
Andrea Bocelli schwärmt vom Gefängniswein
Der Weinberg ist nur einen Hektar klein. Dank einer Kooperation mit den Winzern der berühmten Marchesi de'Frescobaldi bringt er aber einen hochgerühmten Weißwein hervor, jährlich rund 3000 Flaschen. Der Wein sei wie die Insel, schwärmt Weltstar Andrea Bocelli, "die Perle der Aphrodite, leuchtend und verführerisch".
Mit Glück und etwa 50 Euro ist eine jener Perlen in italienischen Top-Restaurants zu haben, etwa im römischen Drei-Sterne-Tempel des deutschen Kochs Heinz Beck. Die Erzeuger auf Gorgona dagegen dürfen nicht einmal probieren: Alkohol ist im Gefängnis verboten. Dafür dürfen die Häftlinge hier aber wenigstens manchmal zum Schwimmen ins Meer.
Je höher die Besuchergruppe auf dem längst nicht mehr gepflasterten, sondern natursteinigen Weg steigt, desto besser wird die Aussicht: Steilhänge, die in kleinen Buchten enden, die Reste einer Festung aus dem Jahre 1000, der Blick auf den Mini-Hafen und das kleine sommerliche Teilzeitdorf sowie, natürlich, die weitläufige Gefängnisanlage am Hang gegenüber.
"Alles schwere Jungs da drin", sagt Biologe und Touristenführer Giacomo, der lange Zeit für ein Forschungsprojekt auf der Insel lebte. Nur in der Endphase einer langen Haftstrafe darf man hierher, zur Resozialisierung. Die Arbeit der Häftlinge wird bezahlt. Immerhin 300 Euro kann jeder im Monat ansparen, für den Start zurück ins Leben danach. Und tatsächlich soll die Rückfallquote der Gorgona-Insassen nur bei etwa 20 Prozent liegen. Für den "normalen" Knast gelten 60 bis 80 Prozent.
"Sympathisch" und "nett" findet die kleine Wandergruppe denn auch die drei "in Resozialisierung", die mit einem Traktor im schattigen Steineichenwald auftauchen, Tischtücher und große Platten abladen und Essen auf einem langen Tisch aufbauen. Pizza und mit Wurst gefüllte Brötchen, Teigrollen mit Gemüse, Fleisch oder Fisch - "buonissimo", sehr gut, begeistern sich die überwiegend italienischen Gäste.
Vergebliche Fluchtversuche und Drogengeschichten
Die stille Sorge, die manchen beim Wandern durch die mit Schwerverbrechern gespickte Waldlandschaft geplagt hat, schwindet. Alle rufen "Grazie", danke, und zum Abschied "buongiorno", guten Tag - mehr Worte darf man mit den Gefangenen nicht wechseln. So will es das Reglement.
Ärger gab es immer mal, in den Achtzigerjahren sogar zwei Tote, beim Streit unter Insassen um die Nähe zu einer schönen Gefängnisärztin. Sämtliche der ohnehin wenigen Fluchtversuche endeten erfolglos.
Zuletzt hatte sich ein ehemaliges Mitglied der französischen Fremdenlegion im Motorraum eines Schiffes versteckt. Er schaffte es bis an Land, wurde dort aber bald wieder eingesammelt. Rauschgiftgeschichten kursieren, in denen die Wachmannschaften eine Rolle spielen. Ansonsten geht es auf der Insel aber meist ruhig zu.
Fast wehmütig blickt die Besuchergruppe auf dem Zwei-Stunden-Trip zum Festlandhafen von Livorno zurück, während die Insel langsam im Dunst verschwindet. Einige von ihnen waren sogar noch im Wasser, am Strand von Gorgona. Und das darf sonst keiner, der dort nicht geboren oder eingesperrt ist.
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