Raubtiere in der Stadt (Von Hansjakob Baumgartner)
Bei uns hat sich der Fuchs als Stadtbewohner längst etabliert. In den USA dringen auch Luchse, Kojoten und manchmal sogar Pumas in urbane Lebensräume vor. Fachleute sind nicht allzu überrascht, gelten gerade Raubtiere doch als extrem anpassungsfähig.
Wer im April 2003 nachts in Zürich unterwegs war, hat das Tier vielleicht gesehen, aber kaum erkannt. Die meisten Nachtschwärmer glaubten wohl, einer riesigen Katze begegnet zu sein: Wer erwartet schon einen Luchs in der Stadt?
Es war Turo. Das Luchsmännchen war zuvor im Jura gefangen und am Tössstock wieder freigelassen worden – zwecks Verstärkung einer neuen Population in der Nordostschweiz. Doch Turo war mit dem Umzug nicht einverstanden. Auf seiner Wanderung heimwärts strandete er in Zürich. Mehrere Nächte streifte er durch das Seefeldquartier, später durch Oerlikon. Tagsüber ruhte er im dichten Gestrüpp von Gärten. Später zügelte er in die rehreichen Wälder über der Goldküste. Erst im November 2004 wanderte er zurück zum Tössstock, wo er ein Weibchen fand und sich fortpflanzte.
Turo verblüffte die Fachwelt. Der Eurasische Luchs ist ein Bewohner grossflächiger Waldlandschaften. Dass sich ein Tier so lange in einer dichtbesiedelten Agglomeration halten kann, hätte man der Art nicht zugetraut.
Vor Jägern sicher
Für den in Nordamerika heimischen Rotluchs sind solche Eskapaden hingegen üblich. Wildtierbiologen zählen ihn zu den «resident urban carnivores» – den Raubtierarten, die sich dauernd in Siedlungsräumen niederlassen können. Etwa im Orange County im Grossraum Los Angeles. Forscher statteten hier 29 Luchse mit GPS-Sendern aus, um deren Bewegungen zu verfolgen. Das Untersuchungsgebiet ist zur Hälfte überbaut, daneben gibt es weite naturnahe Räume wie Wälder, Naturreservate, Parks oder Golfplätze. Die Besiedlungsdichte ist um 40 Prozent niedriger als im Kanton Genf.
Die Luchse nutzten hauptsächlich die naturnahen Lebensräume. Bloss jede siebte Lokalisierung eines Tieres erfolgte im überbauten Raum. Bei einzelnen Individuen reichten die Reviere aber bis in städtische Gebiete. Hier bewegten sie sich möglichst entlang deckungsreicher Strukturen, etwa im Ufergebüsch von Gewässerläufen. Unterwegs waren sie vorwiegend nachts.
Rotluchse sind kleiner als ihre hiesigen Verwandten und ernähren sich von Hasen, Kaninchen und Kleinsäugern. Besonders die Kaninchen vermehren sich auf den gedüngten und bewässerten Wiesenflächen im durchgrünten Siedlungsgürtel um Los Angeles wacker – zum Leidwesen mancher Gartenbesitzer. Die Rotluchse sind deshalb nicht unwillkommen, zumal sie weder für Menschen noch für Haustiere bedrohlich werden können.
Im Siedlungsgebiet sind die Luchse vor Jägern sicher. Gefährlich bleibt ein anderer Feind: Jungtiere werden häufig von Kojoten erbeutet. Ausgerechnet das Tier, das für die weissen Eroberer Nordamerikas die unberührte Natur des Wilden Westens wie kein anderes verkörperte, ist heute überaus erfolgreich bei der Kolonisierung der Städte. 2 bis 6 Kojoten pro Quadratkilometer leben in einem Gebiet, das östlich an die Downtown von Chicago grenzt und vom Menschen so dicht besiedelt ist wie der Kanton Basel-Stadt.
Forscher markierten hier 150 Kojoten mit Sendern. Auch diese wurden vorwiegend in den inselartig verstreuten Wäldern und anderen naturnahen Habitaten gepeilt. Dabei erwiesen sich auch relativ kleine, isolierte Flächen noch als taugliche Lebensräume. Ein Familienrudel hielt sich über mehrere Jahre in einem 250 Hektaren grossen Wald. Der Berner Bremgartenwald ist mehr als doppelt so gross.
Als Allesfresser können sich Kojoten auch von Abfällen und Fallobst ernähren, doch machte menschenbedingte Nahrung nur einen Viertel der Diät aus. Satt wurden die Tiere vor allem durch die Erbeutung von Kaninchen, Nagetieren sowie Weisswedelhirschen, die neuerdings ebenfalls bis in die Aussenbezirke amerikanischer Städte vordringen. Den Kojoten behagt das städtische Milieu. Die Bestandesdichte im Untersuchungsgebiet bei Chicago erreicht Höchstwerte, ebenso die Überlebensrate der Jungtiere. Anlass zu Konflikten geben Kojoten zuweilen, weil sie kleinere Raubtiere, darunter Hauskatzen, töten − um sie zu verzehren, mehr noch aber, um sich die Konkurrenz vom Leibe zu halten. Das kann indes auch positive Auswirkungen auf die städtische Fauna haben: Laut einer Studie in Kalifornien begünstigt die Präsenz von Kojoten die Vogelwelt.
Ein Puma im WC
Selbst Pumas kreuzen in bewohntem Gebiet auf. Dies hat aber weniger mit der Attraktivität dieses Lebensraums für sie zu tun als mit der Tatsache, dass auch in den USA der Siedlungsraum des Menschen immer näher an die letzten Wildnisgebiete rückt. In den Santa Monica und den Santa Ana Mountains im Umland von Los Angeles wurden insgesamt 43 Pumas mit Sendern markiert. Die Studie belegte mehrere Vorstösse bis in die Wohngebiete. Diese bleiben meist unbemerkt – es sei denn, ein Puma wird, wie unlängst in der Umgebung des Chatsworth Nature Preserve, im WC eines unbewohnten Gebäudes gesichtet.
Anders als Rotluchs und Kojote gilt der Puma bloss als Gast in der Stadt. Zwar durchstreifen einzelne Individuen städtische Gebiete, können sich da aber nicht dauernd halten. Gleiches gilt für den Wolf und den Braunbären. Ein kürzlich erschienenes Buch listet mindestens 18 Raubtierarten auf, die Tendenzen zur Verstädterung zeigen.*
Raubtierspezialist Urs Breitenmoser von den Koordinierten Forschungsprojekten zur Erhaltung und zum Management der Raubtiere in der Schweiz (Kora) wundert dies nicht. «Flexibilität ist eine charakteristische Eigenschaft von Raubtieren», sagt er. «Das bringt ihre Lebensweise mit sich. Sie müssen clever sein und ihr Verhalten den sich verändernden Bedingungen anpassen können.» Dies aber sei eine entscheidende Voraussetzung für die Fähigkeit, sich auch in der Nähe des Menschen zu behaupten.
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