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Frauen in Indien

Frauen ohne Wert (NZZ am Sonntag vom 6.1.13)

Die brutale Vergewaltigung und Ermordung einer jungen Frau wirft ein Schlaglicht auf die Situation der Frauen in Indien. Diese werden immer noch als minderwertig behandelt, geschlagen, getötet. Das Elend spiegelt sich selbst in den Bevölkerungsstatistiken. Von Sascha Zastiral

Die Meldungen aus Indien waren verstörend: Sechs Männer haben Mitte Dezember am frühen Abend in Delhi eine junge Frau in einem Bus vergewaltigt und so schwer verletzt, dass das Opfer zwei Wochen später starb. Tausende Menschen gingen auf die Strassen, um gegen die Gewalt gegen Frauen und die Untätigkeit der Behörden zu protestieren.

Im Westen haben diese Entwicklungen offenbar viele Menschen überrascht. War nicht bis vor kurzem noch davon die Rede, dass Indien auf dem Weg sei, die nächste wirtschaftliche Supermacht zu werden, das zweite China? Und ist Indien nicht schon längst ein modernes Land?

Das moderne Indien der Bürotürme, Callcenter, Shopping-Malls und Informatik-Konzerne, das gibt es: Es ist das Indien der Städte. Dort ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine grosse Mittelschicht entstanden. Frauen aus dieser Mittelschicht haben sich schon lange - wie vielerorts auf der Welt - ihre Freiheiten und Rechte erkämpft. Frauen bekleiden einige der höchsten Ämter im Land: Die regierende Kongresspartei, die Opposition im Parlament und vier Gliedstaaten werden von Frauen angeführt. Mehr Frauen können heute lesen und schreiben als je zuvor (laut der letzten Volkserhebung 2011 zwei Drittel von ihnen, fast doppelt so viele wie 1990). Mit 66 Lebensjahren werden Frauen in Indien heute im Schnitt drei Jahre älter als Männer. Immer mehr Frauen machen einen Hochschulabschluss. Es gibt prominente Anwältinnen, Richterinnen und Journalistinnen.

In dem Rummel um das boomende Indien ist jedoch in den vergangenen Jahren häufig untergegangen, dass der wirtschaftliche Aufschwung bis jetzt nur einen kleinen Teil des Landes erreicht hat. Noch immer leben zwei Drittel der Menschen in Indien auf dem Land. Vor allem in Nordindiens patriarchaler Feudalgesellschaft gelten bis heute Männer als das überlegene Geschlecht. Umfragen haben ergeben, dass eine Mehrheit der Männer in Indien noch immer glaubt, es sei in Ordnung, Frauen zu schlagen.

Dass diese Vorstellungen sich so hartnäckig halten, liegt auch an der Armut, die vor allem in Nordindien weiterhin katastrophale Ausmasse hat. Laut einer Studie der Weltbank aus dem Jahr 2010 müssen 68,7 Prozent der Menschen in Indien mit weniger als 2 Dollar pro Tag auskommen. Gemäss Zahlen der Regierung leben etwa 30 Prozent aller Menschen in Armut. Kritiker bemängeln jedoch, der Staat setze seine Armutsgrenze viel zu niedrig an.

Amnesty International (Eine Menschenrechtsorganisation) verweist in einer Studie von 2009 auf einen direkten Zusammenhang zwischen Armut und Gewalt gegen Frauen. Arme Frauen hätten in vielen Ländern häufig keinen Zugang zu Justiz, Schutz oder zu staatlichen Leistungen. Diese Frauen würden daher häufiger «bestimmten Formen von Gewalt ausgesetzt, weil sie einen geringeren sozialen Status besitzen als andere Frauen und weil die Täter wissen, dass diese Frauen den Missbrauch wahrscheinlich nicht berichten oder nicht um Hilfe ersuchen werden.»

Die Gewalt gegen Frauen beginnt häufig schon vor der Geburt. Jedes Jahr lassen Zigtausende Paare das Geschlecht ihrer ungeborenen Kinder bestimmen, obwohl das offiziell streng verboten ist. Stellt sich heraus, dass der Fötus weiblich ist, lassen erschreckend viele Paare ihr Kind sofort abtreiben. Wo solche Untersuchungen besonders oft durchgeführt werden, lässt sich an einer Statistik deutlich ablesen: am Verhältnis von Männern zu Frauen. Nur in den südlichen Gliedstaaten Kerala und Pondicherry gibt es laut der letzten Volkszählung aus dem Jahr 2011 mehr Frauen als Männer. In Assam im Nordosten des Landes kommen auf 1000 Männer 954 Frauen. Im westindischen Gujarat sind es 918. Im überbevölkerten Armutsstaat Uttar Pradesh kommen auf 1000 Männer nur 918 Frauen. In Haryana - westlich von Delhi - gibt es noch 818 Frauen auf 1000 Männer. Experten schätzen, dass Indien durch gezielte Abtreibungen etwa 15 Millionen Frauen verloren hat. Das Resultat ist eine grausame Ironie: Experten glauben, dass in Zukunft die sexuelle Gewalt gegen Frauen vor allem in jenen Regionen zunehmen wird, in denen es zu wenige von ihnen gibt.

Ein Bräutigam bringt Geld

Doch nicht nur die gezielten Abtreibungen haben zum Männerüberschuss geführt. Auf dem Land kommt es immer wieder vor, dass Paare, die sich keine Ultraschalluntersuchungen leisten können, ihre frisch geborenen Töchter töten. Für alle übrigen Mädchen geht der Existenzkampf danach weiter. In vielen Familien erhalten Töchter weniger zu essen als Söhne und werden seltener zum Unterricht geschickt. Zwar trifft man selbst in den ärmsten Regionen des Landes immer wieder Väter, die ihre Töchter abgöttisch lieben und hingebungsvoll für sie sorgen. Viele Familien betrachten ihre Töchter jedoch als Last.

Schuld daran trägt auch die an sich ebenfalls verbotene Tradition, bei Hochzeiten eine Mitgift zu zahlen. Ist es doch üblich, dass die Eltern der Braut die Familie des Bräutigams dafür entschädigen, dass sie ihre Tochter aufnehmen. Vor allem ärmere Väter stürzen sich nicht selten in den Ruin, um ihre Töchter zu verheiraten. Söhne hingegen bringen Geld in die Familienkasse, wenn sie verheiratet werden.

Mehrere tausend Mal im Jahr ermorden Familien ihre Schwiegertöchter. Oft übergiessen sie die Frauen mit Kerosin, das zum Kochen verwendet wird, und zünden sie an, um den Vorfall als Unfall hinstellen zu können. Später kann sich herausstellen, dass den Verbrechen ein Streit um weitere Mitgift-Forderungen vorausging.

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