Drill auf Chinesisch (Von Bettina Weber. Aktualisiert am 29.01.2011)
Chinesische Erziehung ist gnadenlos. Und der westlichen deshalb haushoch überlegen. Das behauptet eine Chinesin, deren Buch in den USA für Furore gesorgt hat und das jetzt auf Deutsch erscheint.
«In der chinesischen Erziehung kommt der Zustand des Glücklichseins nicht vor»: «Drill-Sergeant» Amy Chua.
Das Buch
Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Nagel & Kimche, München 2011. 254 S., ca. 30 Fr.
Unlängst duellierte sich die Miss Schweiz in der Sendung «Fünf gegen fünf» mit dem Mister Schweiz. Beide hatten eine Mannschaft zur Unterstützung dabei; bei Kerstin Cook handelte es sich um ehemalige Miss-Kandidatinnen, bei Jan Bühlmann um Kolleginnen und Kollegen. Die Schönheitskönigin startete unglücklich. Auf die Frage, welches Land den grössten Anteil an Wüstenfläche aufweise, antwortete sie: «Sahara». Und als dann gefragt wurde, was zur Fotosynthese alles nötig sei, vermeldeten die Damen nach angestrengtem Nachdenken entweder «eine Kamera» oder «ein dunkler Raum».
Kinder das Siegen beibringen
Auch wenn sich Miss-Kandidatinnen nicht durch Klugheit auszeichnen müssen: Man war doch etwas erschüttert. Und fragte sich, ob Amy Chua vielleicht nicht doch recht hat. Chua nämlich, chinesischstämmige Amerikanerin und Jus-Professorin an der Universität Yale, hat ein Buch geschrieben, das in den USA für heftige Debatten gesorgt hat und nun auf Deutsch erscheint. In «Die Mutter des Erfolgs – Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte» beschreibt sie, inwiefern die chinesische Erziehung der westlichen überlegen ist.
Das ist ziemlich harte Kost – zum einen, weil die Ergebnisse der Pisa-Studie und die Erfolge von asiatischen Immigranten in den USA Chua recht zu geben scheinen; und zum anderen, weil es der westlichen Denkart vollkommen widerspricht, wenn es etwa heisst: «In der chinesischen Erziehung kommt der Zustand des Glücklichseins nicht vor.»
Der Wille wird gebrochen
In der Tat handelt es sich bei der chinesischen Erziehung um eine todernste Angelegenheit, einen ständigen Kampf, eine freudlose, höchst disziplinierte Sache, die man nur unter dem Begriff Drill zusammenfassen kann. Chua schreibt: «Kinder haben grundsätzlich keine Lust, sich anzustrengen – deshalb ist es ja so immens wichtig, dass man sich über ihre natürlichen Tendenzen hinwegsetzt.» Westlich gedacht heisst das: Der Wille der Kinder muss gebrochen werden.
Chuas Töchter, Sophia und Lulu, hatten also ein strenges Programm zu absolvieren. Freizeit gab es keine, Spielnachmittage mit anderen Kindern auch nicht, und Übernachten bei Freundinnen kam schon gar nicht infrage. Lob gab es kaum, in der Schule galt jede Abweichung von der Note 6 als Versagen (ausser in Turnen und Theater), die beiden Mädchen mussten als Sechsjährige mit Klavier und Geige anfangen, und ihr Stundenplan erinnerte an ein Boot-Camp: Geübt wurde täglich, auch sonntags und an Geburtstagen, und zwar jeweils mindestens 90 Minuten; an Tagen, an denen der Unterricht stattfand, doppelt so lang.
Ausnahmen gab es keine: Selbst eine Kieferoperation war kein Grund, den Übungsplan weniger straff zu gestalten. Chua schreibt ungerührt: «Für solche Fälle gab es Medikamente.» Fuhr die Familie in die Ferien, wurde weiter geübt; mit der Geige war das weniger ein Problem, mit dem Klavier schon. Aber Chua scheute keinen Aufwand, an jedem Ort der Welt irgendwo einen Übungsraum samt Flügel zu organisieren.
Westliche Eltern sind faul
Und vielleicht liegt es daran, dass sich westliche Eltern und Pädagogen derart empören über das Buch der Tigermutter: Chua macht ihnen ein schlechtes Gewissen. Weil die chinesische Erziehung nicht nur den Kindern eine Menge abverlangt, sondern den Eltern genauso. Da gibt es Tränen und Tobsuchtsanfälle, es ist aufreibend und nervenzehrend für beide Seiten, denn auch die Eltern haben sich der totalen Disziplin verschrieben. So existiert kein Laissez-faire, kein «Ist nicht so schlimm» oder «Dann lassen wir das für heute».
Man geht nicht den Weg des geringsten Widerstandes, als den Chua die permissive westliche Erziehung deutet, sondern setzt sich voll und ganz für die Kinder ein – auch wenn der Preis dafür hoch ist. Chua kontrollierte nicht nur minutiös die Hausaufgaben, sie überwachte auch jede einzelne Übungsstunde ihrer Töchter und schrieb ihnen dafür seitenlange Anweisungen. Das klingt nach Vollzeitjob, aber sie ist daneben noch Professorin an der Yale University, und wenn sie einen Vortrag hielt in einer anderen Stadt, stand sie eben um 3 Uhr morgens auf, um noch am selben Tag wieder zurückzufliegen und nach dem Rechten sehen zu können. Dass sie also die Frage einer Kollegin, ob sie dieses ganze Programm mit Musikstunden und Üben und Fahren und Hausaufgaben eigentlich für sich oder für ihre Töchter mache, als zutiefst westlich empfand, überrascht nicht: «Ich kann mit gutem Gewissen sagen, dass alles, was ich tue, unzweifelhaft und hundertprozentig für meine Töchter ist. Mein überzeugendster Beweis ist, dass ein sehr grosser Teil der Arbeit, die ich in Sophia und Lulu stecke, einfach schrecklich und zermürbend ist und mir nicht den geringsten Spass macht.» Denn sie müsse ja «zu Hause bleiben und schreien und mich von meinen Kindern hassen lassen».
Aber eine chinesische Mutter steckt das mit dem Gehasstwerden weg. Im Vordergrund steht für sie nicht das Wohlbefinden des Kindes – sondern dessen innere Stärke, an die sie unerschütterlich glaubt. Das habe mit Achtung zu tun, schreibt Chua: «Es gibt nichts Destruktiveres für ein Kind, als zuzulassen, dass es aufgibt. Umgekehrt stärkt nichts das Selbstvertrauen so sehr, wie wenn man etwas zustande bringt, das man sich erst nicht zugetraut hat.» Wie unbeirrt an diesem Dogma festgehalten wird, erklärt Chua am Beispiel ihrer Schwester Cindy, die am Down-Syndrom leidet: Ihre Mutter übte mit dem behinderten Mädchen täglich drei Stunden am Klavier – bis der Lehrer sie behutsam darauf hinwies, dass nun eine Grenze erreicht sei.
Die Rebellion der Tochter
Bei ihren beiden Töchtern existierten für Chua keine Grenzen. Aber irgendwann mochte die Jüngere nicht mehr. Weigerte sich ganz einfach, weiterhin Geige zu spielen, allen Drohungen und Sanktionen zum Trotz. Und so räumt Chua gegen Ende des Buches ein, dass eben dies die Achillesferse der chinesischen Erziehung sei: Ein Scheitern ist nicht vorgesehen. Ihre Töchter verfügten glücklicherweise über ein grosses musikalisches Talent, feierten Erfolge und galten als Wunderkinder – was aber wäre gewesen, wenn beide komplett unmusikalisch gewesen wären?
Das chinesische System kennt offenbar keinen Plan B. Entsprechend hilflos reagierte Chua auf die rebellische Tochter, sie fühlte sich gedemütigt; zum einen, weil in der chinesischen Erziehung der Gehorsam der Kinder den Eltern gegenüber sozusagen das Kernstück bildet, und zum anderen, weil sich Lulu als Geigenersatz ausgerechnet so etwas Minderwertiges wie Tennis ausgesucht hatte.
Das System produziert Roboter
Amy Chua ist dennoch überzeugt von der Überlegenheit des chinesischen Erziehungssystems. Abgesehen von den im Buch erwähnten Beispielen, die einen befremden und von denen man hofft, dass sie der Story halber übertrieben dargestellt werden, offenbart die Tigermutter in kleinen Nebensätzen aber ungewollt auch dessen Schwäche. Etwa wenn sie über sich selbst schreibt, sie sei keine, die von Natur aus skeptisch sei und hinterfrage; sie habe an der Uni einfach alles auswendig gelernt. Eben dieses Gefühl beschleicht einen während des Lesens: dass dieses System Roboter produziert und nicht Menschen, die selbst denken, Fragen stellen, kritisch und neugierig sind. Vielleicht sind die Chinesen deshalb so grandios im Kopieren – im Erfinden aber nicht. Abgesehen davon, dass in einem totalitären Regime das selbstständige Denken lebensgefährlich sein kann, im demokratischen Westen aber sehr willkommen ist.
Kinder Disziplin zu lehren, ist eine gute Sache. Kindern beizubringen, nicht gleich aufzugeben und auf die Zähne zu beissen, wenn es einmal schwierig wird, ist eine Schule fürs Leben. Aber so viel Disziplin und Härte ist unsympathisch. Es fehlt die Lebensfreude, die Leidenschaft, die Fähigkeit, auch mal fünf gerade sein zu lassen. Und vor allem: Es wird suggeriert, das Leben an sich lasse sich allein mit schierem Willen bewältigen. Und das ist nicht Überlegenheit, sondern ein gewaltiges Missverständnis. (Tages-Anzeiger)
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