Ruhelose Wächter der Ozeane (NZZ am Sonntag vom 21.10.2012 21.10.12 18:18)
Auch während des Schlafs bleiben Delphine mit der Hälfte ihres Gehirns stets wach. Nur so können sie sich vor den tödlichen Attacken von Haien schützen. Von Patrick Imhasly
Delphine schlafen nur mit einer Hälfte des Gehirns und einem geschlossenen Auge. Bisher dachte man, sie täten das, um nicht zu ertrinken, wenn sie ein Nickerchen halten. Denn die wache Hirnhälfte steuert die Schwimmbewegungen und erlaubt den Meeressäugern aufzutauchen, wenn sie Luft holen müssen. Jetzt zeigt eine Studie amerikanischer Zoologen, dass dieses eigenartige Schlafverhalten noch einen weiteren Grund hat. Delphine bleiben beim Schlafen halbwach, damit sie stets wissen, ob irgendwo Feinde lauern, oder dass ihnen nicht entgeht, wenn gerade ein Schwarm von Beutefischen in der Nähe umherschwimmt («PLoS ONE», Bd. 7, online).
Ähnlich wie Fledermäuse orientieren sich Delphine unter Wasser mithilfe von Echoortung. Dabei stossen die Tiere schnelle Serien von klickartigen, kurzen und rasch abnehmenden Lauten aus. Die Schallwellen werden von Objekten in der Umgebung reflektiert. Die Delphine nehmen das Echo auf, und ihr Gehirn verarbeitet diese Informationen zu einer Art akustischem Abbild der Umgebung.
«Delphine können mittels Echoortung Dinge besser erkennen und lokalisieren als vom Menschen geschaffene Sonarsysteme, besonders in einem lärmigen Umfeld», schreiben die Forscher um Brian Branstetter von der National Marine Mammal Foundation im kalifornischen San Diego. Bisher war allerdings nicht bekannt, in welchem Ausmass die Tiere ihre Umgebung unter Wasser akustisch scannen.
Branstetter und seine Kollegen testeten deshalb zwei Grosse Tümmler (Tursiops truncatus) - ein Männchen namens Nay und ein Weibchen namens Say - in einem schwimmenden Käfig auf ihre Fähigkeit, stets wachsam zu bleiben. Während tagelangen Testserien wurden Nay und Say mit akustisch simulierten Objekten konfrontiert und mit Fischen belohnt, wenn sie korrekt darauf reagierten.
Volle 5 Tage und Nächte lang waren beide Individuen auf Empfang. Sie machten kaum Fehler bei der Entdeckung von Objekten in ihrer Nähe und zeigten keinerlei Anzeichen von Ermüdung. Das Weibchen Say vermochte diese Leistung in einem zweiten Experiment sogar während 15 Tagen und Nächten aufrechtzuerhalten. Danach mussten die Forscher den Test wegen eines aufziehenden Sturms abbrechen. Brian Branstetter vermutet aber, dass Delphine fähig sind, in ihrer natürlichen Umgebung über lange Zeit ohne jede Unterbrechung wachsam zu sein.
«Aus menschlicher Sicht scheint dieses Verhalten extrem, aus Sicht der Delphine ist es die einzige Möglichkeit, ihr Überleben zu sichern», schreiben die Wissenschafter. Tatsächlich sind viele Delphin- Populationen konstant dem Risiko von Haiattacken ausgesetzt. So stellte eine Studie in einer westaustralischen Population von Grossen Tümmlern fest, dass drei Viertel der erwachsenen Tiere Bissspuren von Haien aufwiesen.
Es scheint also, dass das halbwache Schlafen mit nur einer Hirnhälfte eine perfekte Anpassung an das Leben in einem bedrohlichen Umfeld darstellt. Auch Enten, Hühner, Tauben oder Pinguine reduzieren die nächtliche Gefahr mit dieser Strategie und halten dabei ein Auge offen - speziell, wenn sie Wachdienst über eine Schar haben.
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